Hintergrund: „Die Kinder von Lügde – Alle haben weggesehen“
„An keinem Interviewtag war sicher, ob der Dreh auch stattfinden würde.“
Das Redaktionsteam des Dokumentar-Mehrteilers „Die Kinder von Lügde“ über einen Missbrauchsskandal stand sowohl visuell wie auch ethisch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie lässt sich das Unvorstellbare darstellen? Das Autor:innen-Team erhält für die Filme den Blauen Panther in der Kategorie Information / Journalismus.
Der Fall Lügde sorgte bei seinem Bekanntwerden im Januar 2019 für Entsetzen. Es geht um schweren sexuellen Missbrauch von Kindern in rund 1.000 Fällen und die Verbreitung von kinderpornographischem Material. Dazu kommt aber noch ein Behördenversagen, das in seinem Ausmaß schwer zu ertragen ist. Der inzwischen verurteilte Andreas V. konnte sich über seine Pflegetochter Zugang zu weiteren Kindern verschaffen, vergewaltigte sie auf seiner Parzelle am Campingplatz und stellte aus seinen Taten kinderpornographisches Material her, das er verbreitete. Zwei weitere Täter sind ebenfalls verurteilt worden.
Wie kann man das Unvorstellbare filmisch aufbereiten? Vor dieser Aufgabe standen die Autor:innen des Vierteilers „Die Kinder von Lügde“. Wie kann man einen Missbrauch von enormem Ausmaß darstellen, ohne Sensationslust, ohne die Würde der betroffenen Kinder und Familien zu verletzen? Produzent Robert Wortmann entwickelte zusammen mit den Autor:innen Lisa-Marie Schnell, Volker Wasmuth, Tabea Mirbach und Patrick Zeilhofer ein Konzept, das emotional aber nicht reißerisch ist, Spannung erzeugt, dabei aber auf effekthascherische True-Crime-Elemente verzichtet. Wie eine Zwiebel schält sich mit jeder der vier Folgen eine weitere Schicht des enormen Missbrauchskomplexes ab. „Dabei gelingt es, für die Rekonstruktion angemessene Bilder zu finden und gleichzeitig den Opferschutz zu wahren,“ würdigt die Jury.
Horizontale Erzählweise für die komplexe Geschichte
Das übergreifende Drehbuch-Konzept stammt von Britta Stöckle, die sonst überwiegend Spielfilmdrehbücher schreibt. Mit ihr entwickelte Produzent Robert Wortmann die Dramaturgie und die horizontale Erzählweise über vier Teile hinweg. In Teil eins behandelt Lisa-Marie Schnell den Mikrokosmos des Campingplatzes und nähert sich dem Haupttäter Andreas V. an. Der Film zeigt, wie er die Kinder am Campingplatz um sich schart. In Teil zwei legen Volker Wasmuth und Tabea Mirbach eine tieferliegende Schicht frei: das Versagen der Jugendämter und die Frage, wie der Missbrauch zwischen den Ämtern so lange nicht nur unentdeckt, sondern auch ohne Reaktion blieb. Der Missbrauchsskandal selbst könnte an dieser Stelle abgeschlossen werden, wenn dann nicht ein weiterer Skandal stattfinden würde. Dem Versagen der Polizei und dem unfassbaren Ermittlungschaos widmet sich Teil drei von Patrick Zeilhofer. Dieser Film richtet damit den Blick auf eine weitere Ebene. Der letzte Teil von Lisa-Marie Schnell öffnet den Blick auf die Gesellschaft und auf die Frage, wie so ein massiver Missbrauch so lange unerkannt bleiben kann. Außerdem erzählt er, wie die Opfer noch immer unter den Taten leiden und dabei wenig Beachtung und Unterstützung durch die Behörden bekommen.
Vier Filme mit einer gemeinsamen Sprache
Damit die vier Teile der Lügde-Dokumentation trotzdem eine gemeinsame Sprache bekommen konnten, war viel Abstimmung nötig. „Wir haben uns darauf verständigt, die Interviews ähnlich zu führen, haben darüber gesprochen, wie die Bilder aussehen sollen, welche Haltung wir transportieren, wie wir welche Szenen zeigen. Wir hatten außerdem die Illustrationen und die nachgestellten Szenen, die optisch eine Klammer bilden“, sagt Lisa-Marie Schnell. „Und wir hatten André Götzmann, der als Director of Photography bildgestalterisch den Hut aufhatte, sowie Kameraleute, die sehr einfühlsam gefilmt haben“, ergänzt Robert Wortmann. Er betont außerdem den Anteil der Executive Producerin Kirsten Hoehne. „Sie kam später zu dem Projekt dazu und konnte mit etwas Distanz den Finger in die Wunde legen. Bei so einem Thema mussten wir uns immer wieder fragen, kann man das so sagen und zeigen?“ Ebenfalls wichtig war die Unterstützung durch Erol Kamisli und Janet König, die den Fall in der Lokalpresse begleiteten und wichtige Einblicke lieferten.
Vor allem ist es den Autor:innen gelungen, starke O-Töne zu erhalten. Das hebt auch die Jury des Blauen Panther hervor: „Getragen wird dieser herausragende Film von vielen starken O-Ton-Gebern wie von Eltern missbrauchter Kinder, Mitglieder des Untersuchungsausschusses, oder Vertretern von Jugendämtern und Polizei, allen voran aber zwei Reportern der Lippischen Landes-Zeitung, die von ihren Recherchen berichten.“ Den Autor:innen war es wichtig, die Geschichte aus Sicht der Protagonist:innen zu erzählen. Daher verzichten sie beispielsweise auch auf eine kommentierende Stimme aus dem Off. Die Aussagen stehen für sich und entfalten dadurch eine besonders große Kraft.
Einfühlsame Erzählweise
Wie kann man das Unvorstellbare filmisch darstellen? Diese Frage war für die Autor:innen auch deshalb so wichtig, weil es tatsächlich schwierig war, das passende filmische Material zu bekommen. Viele Gesprächspartner:innen sagten im letzten Moment ab, Verantwortliche wollten nicht vor die Kamera treten. „An keinem Interviewtag war ich mir sicher, dass der Dreh auch stattfinden würde“, sagt Lisa-Marie Schnell, eine der Autor:innen. Klar war für das Team, dass es die Kinder nicht zeigen wollte. Schlüsselszenen mit den Kindern gibt es daher als Illustrationen. So bekommen die Kinder, aber auch die Täter, eine Gestalt, ohne sie tatsächlich zu filmen. Das Illustratoren-Team Mona Eing und Michael Meissner erarbeiteten hier eine einheitliche Bildsprache, gemäldeähnlich und detailreich, die die unterschwellige Bedrohung gut einfängt. Ein weiterer Kniff, um Szenen zeigen zu können, war das Nachstellen . Dafür baute das Team ein theaterähnliches Setting in einer Halle in Hamburg. Hier sprechen Schauspieler:innen Aussagen aus dem Untersuchungsausschuss nach oder zeigen, wie die Arbeit in den Jugendämtern abgelaufen sein könnte. Klar markiert als nachgestellte Szene und mit eher gesprochenen als nachgespielten Texten, schafft dieses Vorgehen Distanz. Gleichzeitig geben die Szenen wichtige Einblicke in die Abläufe und in das, was alles schiefgelaufen ist.
Jugendämter versagten, Hinweise versandeten, Ermittlungsmaterialen verschwanden. Der Spiegel veröffentlichte bald nach Bekanntwerden eine umfangreiche Recherche, die eine wichtige Basis für den Vierteiler im ZDF ist. Bis die Filme aber zu sehen waren, vergingen noch einige Jahre: Ende 2022 liefen die Folgen im Fernsehen. Ein Grund für die lange Projektdauer war – neben Corona – dass das Filmteam den Untersuchungsausschuss im Landtag Nordrhein-Westfalen abwarten wollte, der über zwei Jahre hinweg das Behördenversagen auf Seiten von Jugendämtern, Polizei, Landesregierung, Staatskanzlei und Ministerien aufarbeitete. Das war unter anderem deshalb so wichtig für das Filmprojekt, weil viele Verantwortliche nicht vor der Kamera sprechen wollten. So aber konnten die Aussagen zumindest nachgesprochen werden
Sich über Monate hinweg mit einem so schwierigen Thema zu beschäftigen, ist auch für die Autor:innen nicht einfach gewesen. „Das war die intensivste Produktion, die ich als Autorin betreut habe“, sagt Lisa-Marie Schnell. Sie ist überzeugt davon, dass wir als Gesellschaft zu wenig über sexualisierte Gewalt an Kindern sprechen. Jedes Mal, wenn Ermittler:innen neue Datensätze auswerten, stoßen sie auf weitere Straftaten. „Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und es ist wichtig, dafür eine Sprache zu finden“, so Schnell. Auch dazu soll der Vierteiler einen Beitrag leisten.