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  /  2023   /  Hintergrund: „Gestern waren wir noch Kinder“

Hintergrund: „Gestern waren wir noch Kinder“

Die Macht der Geheimnisse

Ein Familiendrama entfaltet sich in der Serie „Gestern waren wir noch Kinder“ zu einer vielschichtigen und und ausgeklügelten Thrillererzählung

 
„Die Frage ist nicht, ob du mit der Vergangenheit abschließen kannst, sondern wann die Vergangenheit mit dir fertig ist.“ Die 18-Jährige Vivi (Julia Beautx) ist bereits lebensweise genug, einen solchen Satz verinnerlicht zu haben. (c) ZDF - Mathias Neumann

Mit „Gestern waren wir noch Kinder“ gelingt dem ZDF eine der erfolgreichsten Serien des Jahres. In dem intensiven Familiendrama dreht sich alles um einen Mordfall an einer Mutter von drei Kindern, bei dem nichts so ist, wie es zunächst scheint. Drehbuchautorin und Filmproduzentin Natalie Scharf beweist mit dem vielschichtigen Stoff einmal mehr ihr Händchen für Highend-Produktionen im Fernsehen. „Gestern waren wir noch Kinder“ ist beim Blauen Panther 2023 für den Publikumspreis „Beliebteste Serie“ nominiert.

„Geheimnisse sind wie Ungeziefer“, heißt es an einer Stelle der ZDF-Serie „Gestern waren wir noch Kinder“, „Sie kriechen dir überall hin nach. In jeden Winkel. In jedes Eck.“ Am Ende der sieben intensiven Folgen des Thriller-Melodramas aus der Feder der Fernsehfachfrau Natalie Scharf („Frühling“) wird das Publikum genauer wissen, was es mit den Geheimissen der Protagonist:innen rund um die Familie Klettmann auf sich hat, jener Familie, bei der am Anfang noch alles zu stimmen scheint. Ein perfektes Haus am Starnberger See, geschmackvolle Interieurs, vertraute Bilder des Familienglücks. Das Ehepaar Anna und Peter Klettmann (Maria Simon und Torben Liebrecht) scheint einiges im Leben richtig gemacht zu haben. Als Rechtsanwalt besitzt Peter Klettmann das Auskommen, um im Villenviertel den Lebensmittelpunkt der Vorzeigefamilie zu errichten. Der Jurist trat einst in die Fußstapfen seines erfolgreichen Vaters und übernahm dessen Kanzlei für Erbrecht, dabei hatte Peter als junger Mann eigentlich den Traum, Schlagzeuger einer Rockband zu werden. Seinen Wunsch gibt er als Heranwachsender unter dem zunehmenden Druck des herrschsüchtigen Vaters (Ulrich Tukur) auf. Die Wildheit des Jugendlichen verschwindet unter dem geschniegelten Look des Juniorpartners, der bald schon in der Kanzlei des Vaters als dessen Angestellter anheuert. Es sind nicht nur die Schlagzeug-Trommelschläge aus der Vergangenheit, die sich wie ein versteckter Puls im Hintergrund durch die Handlung der Serie ziehen, es sind weitere, weitaus schlimmere verdrängte Geschehnisse, die in „Gestern waren wir noch Kinder“ den grausamen Takt vorgeben.

Was in Zeitungen meist nur als „Familiendrama“ zusammengefasst werden kann, rückt in „Gestern waren wir noch Kinder“ ins Zentrum: die Hinterbliebenen der fatalen Tat, die Kinder. (c) ZDF - Mathias Neumann

Hinter dem perfekten Schein lauert ein Abgrund

Von dem, was sich bereits am Anfang der ersten Episode abspielt, heißt es in Zeitungen häufig, ein „Familiendrama“ habe sich ereignet. Der blutige Fakt: Familienvater Peter Wittmann hat seine Frau ermordet. Den Umständen seiner Tat wird Natalie Scharfs vielschichtige wie ausgeklügelte Thrillererzählung in sieben ereignisreichen Episoden nachgehen. Nicht so sehr die Tat selbst steht dabei aber im Vordergrund, sondern vielmehr das Drama, von dem die Öffentlichkeit in Fällen wie diesem selten erfährt – von dem der Hinterbliebenen der fatalen Tat, den Kindern.

„Die Frage ist nicht, ob du mit der Vergangenheit abschließen kannst, sondern wann die Vergangenheit mit dir fertig ist.“ Die 18-Jährige Vivi (Julia Beautx) ist bereits lebensweise genug, einen solchen Satz verinnerlicht zu haben. Nach dem Mord an ihrer Mutter steht sie vor den Trümmern ihrer eigenen Existenz, obwohl im Leben der Jugendlichen doch eigentlich alles erst so richtig anfangen sollte. In schwindelnden Einstellungen taumelt Vivi durch die Straßen des Münchner Bahnhofsviertels, wo sie vorübergehend im Hotel lebt. Vor der einschneidenden Tat stand das Mädchen kurz vor dem Abitur, die Elitenschule, die sie besuchte, sollte ihr optimale Startvoraussetzungen für das spätere Berufsleben verschaffen. Die Bilder des Tattags werden sich für immer in Vivis Gedächtnis einbrennen. Sie muss jetzt Verantwortung übernehmen, für sich sowie für das Leben ihrer beiden jüngeren Geschwister (Vico Magno und Carlotta von Falkenhayn). Dabei behilflich, im Leben nach dem Unvorstellbaren wieder Fuß zu fassen, ist Vivi der junge Polizist Tim Münzinger (Julius Nitschkoff). Bei Tim fühlt Vivi sich nach den traumatischen Ereignissen geborgen. Tim war nach dem Mord als erster am Tatort. Noch bei Bewusstsein flüstert die Mutter dem Polizisten eine letzte Botschaft ins Ohr. Was in den Momenten vor ihrem Tod in Wirklichkeit ihre Worte waren, werden die Zuschauer:innen erst ganz am Ende der sieben Episoden erfahren.

Nichts ist wie es scheint in „Gestern waren wir noch Kinder“: Die vielschichtige Erzählung entwickelt sich zu einem intensiven Thriller-Melodrama. (c) ZDF - Walter Wehner

Unterschätze nie die Macht eines Geheimnisses

„Der Wahnsinn hat verschiedene Gesichter. Manchmal zeigt er sich offen. Oder wir versuchen ihm zu entfliehen“, heißt es an einer Stelle, kurz vor der Auflösung dessen, was sich wirklich am Tattag zugetragen hat. Die Drehbuchautorin und Produzentin Natalie Scharf zeigt in „Gestern waren wir noch Kinder“ einmal mehr, wie sehr sie sich auf das Highend-Serienhandwerk versteht. Scheinbar mühelos jongliert sie in ihrem Thriller-Melodrama Zeit- und Erzählebenen. Ihre emotionale Wucht bezieht ihr beim Publikum beliebtes Drama aus der Gewissheit, dass Konflikte und Geschehnisse der Kindheit und Jugend – und mögen sie auch Jahrzehnte zurückliegen – in der Jetztzeit und Wirklichkeit ein fatales Nachleben entwickeln können. Das Material für ihre hochaufgeladenen Stoffe bezieht die erfahrene Film- und Fernsehautorin dabei mitunter auch aus dem eigenen Leben. Als Tochter eines Psychiaters kam Scharf früh schon mit den möglichen Abgründen des Seelenlebens in Berührung. Über den Kontakt mit den Patient:innen des Vaters sagt Scharf in einem Interview: „Entweder zieht dich das in den Abgrund. Oder es macht dich stark.“ Sechs Jahre lang nahm sich Natalie Scharf, die das Drehbuchautorenhandwerk in der Soap-Produktion der Bavaria Film GmbH erlernte, für das Skript ihrer Thrillerproduktion Zeit. Ein Aufwand, der sich – das zeigt die Begeisterung des Publikums – mehr als gelohnt hat. Die Geschichte der Teenagerin Vivi und ihre unheimliche Frage, um die sie immer wieder kreist – „Wird man als Mörder geboren? – hallen noch lange nach dem Sehen nach. Fest steht am Ende vor allem eines: Unterschätze nie die Macht, die ein Geheimnis über einen Menschen haben kann.