Hintergrund: „Der Greif“
Wolfgang und Heike Hohlbeins „Der Greif“: Pubertiere und andere Monster
„Kann Germany ‚Stranger Things‘?“ Nicht wenige waren skeptisch. Doch das Fantasy-Spektakel von Wolfgang Hohlbein braucht den Vergleich mit der US-Konkurrenz nicht zu fürchten – und ist obendrein preiswürdig.
Dass Fantasy-Serien made in Germany sich vor internationaler Konkurrenz nicht zu verstecken brauchen, bewiesen jüngst Welterfolge wie „Dark“. Jetzt setzt die ebenso spannende wie düstere Verfilmung von Heike und Wolfgang Hohlbeins Bestseller „Der Greif“ zum Sturzflug auf den Blauen Panther-Award an.
„Kann Germany ‚Stranger Things‘?“ Diese Frage diskutierten Feuilleton und Fans gleichermaßen, nachdem publik geworden war, dass Wolfgang und Heike Hohlbeins Young-Adult-Bestseller „Der Greif“ für Prime Video in Serie gehen sollte. Nicht wenige waren skeptisch. Im Mai 2023 feierte der Sechsteiler Premiere, seitdem steht fest: Das deutsche Fantasy-Spektakel braucht den Vergleich mit der US-Konkurrenz nicht zu fürchten, mehr noch, es ist obendrein preiswürdig. Die Jury des Blauen Panthers nominierte das Teenie-Abenteuer für den diesjährigen Publikumspreis „Beliebteste Serie“. Die High-End-Produktion sei nicht nur ein opulentes Fantasy-Epos, sondern auch „eine klug konstruierte Popkultur-Reflexion“, so die Begründung, setze zudem „mit viel Liebe zum Detail Maßstäbe, die auch einem internationalen ‚Stranger Things‘- und ‚Herr der Ringe“-geschulten Publikum gerecht werden.“
Dass die Adaption des 600-Seiten-Schmökers aus dem Hause Hohlbein des Öfteren mit dem US-Hit „Stranger Things“ verglichen wird, verwundert wenig: Beide erzählen eine Coming-of-Age-Story um ein paar Außenseiter aus einem Provinzkaff, die in ihrer realen Welt erwachsen und in einer Paralleldimension zu Helden werden (müssen). Der mysteriöse Kosmos birgt grauenvolle Monster, obendrauf gibt es reichlich Retro-Charme. Statt in die Eighties geht es hier allerdings zurück in die 1990er Jahre, inklusive Karo-Hemden, Mixtapes und Seattle-Sound. Grunge-Fans wird das freuen.
Im Bann des Schwarzen Turms
„Der Greif“ ist ein hübsch gruseliger Mix aus Mystery-Märchen und Goth-Horror, in dem innere wie äußere Dämonen bezwungen werden müssen. Die (spoilerfreie) Zusammenfassung: 1994, in der fiktiven Kleinstadt Krefelden gilt Mark Zimmermann (Jeremias Meyer) trotz seines coolen Nebenjobs bei „Orakel LP“, dem Plattenladen seines Bruders Thomas (Theo Trebs), als versponnener Einzelgänger. An seinem 16. Geburtstag überreicht ihm Thomas die mysteriöse Chronik des Schwarzen Turms gepaart mit der kryptischen Bitte, der Familientradition zu folgen und sich in den alten Wälzer einzuschreiben. „Der Schwarze Turm braucht uns“, sagt er, „Das ist unsere Bestimmung.“ Mark unterschreibt nur widerwillig, er hat wenig Bock auf irgendeine Berufung und andere Welten, ihm reicht der Alltagsstress im Hier und Jetzt: In der Schule läuft es nicht rund, er ist wegen seiner schwer kontrollierbaren Wutausbrüche in psychologischer Behandlung, sorgt sich um seine labile Mutter und hat sich auch noch in die frisch zugezogene Becky (Lea Drinda) verguckt. Und überhaupt, hat dieses Geschwurbel von einer Parallelwelt nicht bereits seinen Vater in den Wahnsinn getrieben? Dass es den Schwarzen Turm tatsächlich gibt, merkt der 16-Jährige schneller als ihm lieb ist. Fortan wechselt er zwischen der realen und einer in Ebenen unterteilten, geheimen Welt, in der gehörnte Monster Jagd auf neue Sklaven für den grausamen Greif machen, einem Ungetüm, das die Turm-Welt unterjocht hat. Becky (Lea Drinda) und Kumpel Memo (Zoran Pingel) sind zunächst skeptisch, doch dann verschwindet Thomas im Schwarzen Turm. Können sie ihn retten? Und ist Mark tatsächlich der einzige, der den Greif zu Fall bringen kann?
Eine „ebenso reizvolle wie zeitgemäße Hybridstruktur aus Coming-of-Age und Fantasy-Abenteuer“, lobt die Blauer Panther-Jury. Ersonnen hat dieses albtraumhafte Universum der deutsche „King of Fantasy“ Wolfgang Hohlbein („Chronik der Unsterblichen“). Der heute 70-Jährige verfasste – teils unter Pseudonym, teils mit Co-Autoren, Ehefrau Heike oder Tochter Rebecca – bislang über 200 Bücher. Seine Karriere begann der gebürtige Weimarer mit Kurzgeschichten, die er in seinem Nebenjob als Nachtwächter aus Langeweile schrieb. Später sattelte er auf Western- und Horrorromane um, fokussierte sich aufs Fantasy-Genre, verfasste zudem Kinder-, Jugend- und Drehbücher („Die Wolf-Gäng“). Sein Durchbruch gelang ihm 1982 mit „Märchenmond“, seinen ersten Bestseller gibt es sogar als Musical. Mit einer Gesamtauflage von über 53 Millionen gilt Hohlbein als erfolgreichster Mystery-Autor Deutschlands. Überhaupt nicht mysteriös: Das Alltagsleben des Ehepaares und seiner sechs Kinder, das die RTL2-Doku-Soap 2014 in „Die Hohlbeins – Eine total fantastische Familie“ in Neuss zeigte.
Vom Bestseller zum Streaming-Hit
Der ursprünglich vierbändige „Greif“ erschien erstmals 1989 und verkaufte sich seither über eine Million mal. Rund 30 Jahre habe er mit der Herausgabe der Filmrechte gezögert, so der Autor in einem Interview. „Die Chemie muss stimmen.“ Bei der serienerfahrenen Produktionsfirma Wiedermann & Berg („Dark“) stimmte sie. Quirin Berg ist seit Teenagertagen Fan des Romans. Mit den Showrunnern Erol Yesikaya („Hausen“), der das Skript verfasste und „Tatort“-Regisseur Sebastian Marka waren außerdem Experten in Sachen Spannung an Bord. Marka: „Eine Serie wie ,Der Greif‘ zu machen, ist ein Kindheitsraum von Erol und mir.“ Prime Video stattete die Produktion mit einem satten Millionen-Budget aus. Gedreht wurde der Sechsteiler zwischen Juli und November 2021 in Berlin und Umgebung.
Hat sich der Aufwand gelohnt? Das bildgewaltige Fantasy-Abenteuer läuft derzeit in über 240 Ländern, mit den Abrufzahlen zeigt sich Streaming-Anbieter mehr als zufrieden. Gut möglich deshalb, dass weitere Abenteuer auf Mark und seine Freunde warten. Romanautor Hohlbein ist zuversichtlich. Die Serie sei als Trilogie angelegt, verriet er. Und so wird „Der Greif“ mit etwas Glück nicht nur die Blauer Panther-Jury ein weiteres Mal in seinen Bann ziehen.