Streamingtipps zum Jahresende
Streamingtipps zum Jahresende
„Blauer Panther“- Weihnachts-Countdown
Mal ehrlich, schon in Festtagslaune? Oder ist der Tag zu düster, die Weltlage zu kompliziert, die Lichterkette wartet noch in irgendeinem Karton darauf, entwirrt zu werden? Zu allem Überfluss kneift bereits vor Eröffnung der Weihnachtsbäckerei die Hose, weil Frustschokolade Spuren hinterlässt? Höchste Zeit für ein bisschen Streaming-Eskapismus mit kriminell spannenden Highlights: Tom Schilling übt „Achtsam Morden“, Friedrich Mücke will in „Ich bin Dagobert“ als Erpresser ans große Geld, „ZEIT Verbrechen“ blättert packende True-Crime-Fälle auf. Obendrauf gibt’s eine blutige Vampir-Amour-fou. Merke: Auch mit Angstschweiß verbrennt man Kalorien.
Achtsam Morden
Wie sieht’s mit der Work-Life-Balance aus? Nur so mittelgut? Top-Anwalt Björn Diemel (Tom Schilling) ist ebenfalls ein Getriebener mit lehrbuchmäßigem Burn-Out-Profil. Einer, der seinen Hauptklienten, den cholerischen Mafioso Dragan Sergowicz (Sascha Geršak), häufiger sieht als seine Familie. Zumindest, bis er mithilfe des Achtsamkeitscoaches Joschka Breitner (Peter Jordan) lernt, im Einklang mit sich selbst zu leben und seine Prioritäten besser zu setzen, mehr „Zeitinseln“ mit Tochter Emily beispielsweise. Blöd nur, dass Dragan ihm dazwischenfunkt und deshalb anstelle von Atemübungen ein praxisorientierter Ansatz her muss. Ein Häcksler etwa, hilft ja nix. Dabei ist Diemel kein gewalttätiger Mensch: „Ich habe mich zum Beispiel in meinem ganzen Leben noch nie geprügelt, und den ersten Menschen habe ich auch erst mit 42 umgebracht.“ Es bedarf keiner Erleuchtung, um sich ausmalen zu können, dass Sergowicz’ Gangstersippe auf das Verschwinden ihres Chefs wenig tiefenentspannt reagiert. Auch die Polizei gönnt Diemel keine Atempause.
Tom Schilling glänzt als mordsmäßig gechillter Jurist in diesem hochkarätig besetzten Mix aus Thriller, tiefschwarzer Komödie und einem Spritzer Skurrilität à la „Fargo“. Die Story basiert auf Karsten Dusses gleichnamigem Romandebüt von 2019. Dusse, ebenso wie sein Protagonist Rechtsanwalt, ist Profi in Sachen schräger Humor. Als Chefautor von Anke Engelkes „Ladykracher“ gewann er mehrfach den Deutschen Comedypreis.
Spaß macht auch seine Roman-Adaption. Genüsslich nehmen die kurzweiligen 30-Minüter sowohl den aktuellen Achtsamkeitshype als auch das Krimigenre aufs Korn. Dass dem Treiben gen Finale ein wenig die Puste ausgeht, atmen wir einfach mal relaxed weg und manifestieren, dass Netflix „Achtsam morden“ eine zweite Staffel beschert. Die Chancen stehen gut. Schließlich ist aus Dusses Bestseller mittlerweile eine erfolgreiche Krimibuchreihe geworden.
Achtsam Morden, 1. Staffel, 8 Folgen, seit 31. Oktober, Netflix.
Die Discounter – Staffel 4
Läuft gerade für Marc Hosemann. Im Dezember ist er in der zweiten Staffel von „Der Palast” (ZDF) zu sehen. In unserem aktuellen Serien-Tipp „Achtsam morden“ ist er als Gangster Toni dabei, und überdies geht er gerade mit dem diesjährigen EDEKA-Weihnachtsclip viral. In dem Spot sorgt er als verpeilter Marktleiter für reichlich Cringe-Vibes bei den Mitarbeitenden – und für Unmengen Würstchen. Womit wir beim Thema wären: „Die Discounter“ legen nach.
Wir erinnern uns: 2022 gewann die Mockumentary, von Pyjama Pictures für Prime Video produziert, den Publikumspreis des „Blauer Panther – TV & Streaming Award“. Im Mittelpunkt des teils improvisierten Comedy-Spaßes steht der Lebensmittelhöker „Feinkost Kolinski“ einst in Hamburg-Altona, mittlerweile in Billstedt beheimatet, zwischen dessen Regalen emotionaler Ausnahmezustand herrscht. Arbeiten? Das ist hier Nebensache. Mittendrin nervt Filialleiter Torsten (Hosemann) Kundschaft und Team. Die Blaue-Panther-Jury feierte den deftigen Klamauk, den ein Hauch „Stromberg“ umweht, seinerzeit mit den Worten: „Da darf hemmungslos über Abwesende hergezogen, geschmacklos gewitzelt und passive Aggressivität ausgelebt werden – ganz nach dem Motto: Fremdscham ist, wenn man trotzdem lacht.“
Nun geht die preisgekrönte Chaotentruppe in die vierte und bedauerlicherweise letzte Runde. Für das Drehbuch zeichnen erneut die Zwillinge Oskar und Emil Belton sowie Bruno Alexander (in der Serie als „Titus“ dabei) von Kleine Brüder verantwortlich. Es gibt die üblichen kleinen und großen Alltagsdramen, Gaststars wie Fahri Yardim und eine Überraschung: „Kolinski Billstedt“ schreibt tatsächlich schwarze Zahlen, zwischen Torsten und seiner Beförderung steht jetzt nur noch ein Fortbildungsseminar. Uns schwant bereits, dass das nur herrlich schiefgehen kann.
Die Discounter, 4. Staffel, 10 Episoden, Episoden 1-6 ab 27. November, Episoden 7-10 ab 23. Dezember, Prime Video.
Love Sucks
Düstere Horror-Romanzen made in Germany waren in den vergangenen Jahren vor allem eines: gruselig schlecht. Die ZDFneo-Vampirserie „Love Sucks“ hingegen versöhnt nicht nur durch ein smartes Wortspiel im Titel, sondern auch als moderne „Romeo und Julia“-Fantasy-Variante. Dafür gab’s bereits reichlich Vorschusslorbeeren: Auf dem Filmfest München wurde der Achtteiler mit dem renommierten Bernd Burgemeister Fernsehpreis als beste Serie ausgezeichnet. Die hochwertige Produktion sei mutig und ein Seherlebnis, so die Jury. Apropos Augenschmeichler: Fans des diesjährigen „Blauer Panther – TV & Streaming Award“-Gewinners „Maxton Hall – Die Welt zwischen uns“ (Prime Video) dürfen sich in „Love Sucks“ auf ein Wiedersehen mit Damian Hardung freuen. Diesmal betört der durch den „Club der roten Bänder“ bekannt gewordene 25-Jährige nicht als hochmütiger Millionärserbe, sondern als introvertierter Vampir seine (sterbliche) Teenie-Liebe. Yup, die „Twilight“-Reihe lässt grüßen.
Worum es geht? Vampir Theo (Rick Okon) überredet seinen Bruder Ben (Hardung) auf einem Frankfurter Jahrmarkt, in einem Schaukampf gegen Boxerin Zelda (Havana Joy) anzutreten. Logisch, dass die junge Frau den Blutsauger buchstäblich umhaut. Ebenso logisch, dass sich Bens Liebe auf den ersten Blick als blutiger Hindernisparcours erweist. Zelda stammt aus einer Vampirjägerfamilie, und die Sippe des untoten Romeos hat ebenfalls ein paar Leichen im Keller.
Gefühlvoll, düster und voll im (Vampir-Serien-)Trend: „Love Sucks“ ist ein Coming-of-Age-Drama, das all diejenigen begeistert bingen, die bereits bei „Vampire Diaries“ und Co. mitgeschmachtet haben. Zwar mögen die Dialoge teils zwischen holzig und theatralisch mäandern, auch beim Pathos ist es durchaus zu viel des Guten, aber, hey, dafür werden Fans der leichten Grusel-Unterhaltung mit einem Schmachtblick von Vampir Ben entschädigt. Und wer es dystopischer mag, wartet halt auf den 2025 anlaufenden Horror-Achtteiler „City of Blood“ (Disney+), der auf der bluttriefenden Graphic Novel „Berlinoir“ basiert.
Love Sucks, 1. Staffel, 8 Folgen, seit 31. Oktober, ZDF-Mediathek.
Schwarze Früchte
Wir bleiben beim Thema Liebe mit Hindernissen: Dass Lamin Leroy Gibba, Jahrgang 1994, zugleich Schöpfer, Chefautor, Koproduzent und Hauptdarsteller von „Schwarze Früchte“ ist, klingt an sich bereits beachtenswert. Dass die Coming-of-Age-Serie beim renommierten New Yorker Tribeca Filmfestival erfolgreich Premiere feierte, ebenso. Doch Gibba schuf mit seiner ZDFneo-Produktion überdies ein Novum im deutschen Streaming- und Linear-TV: Sein Debüt erzählt erstmals die Geschichte eines schwarzen, queeren Protagonisten.
Acht Episoden lang gerät das Leben des jungen Hamburgers Lalo (Gibba) zunehmend aus den Fugen. Der sanftmütige Mittzwanziger hat einiges zu wuppen: Sein Vater ist unerwartet gestorben, seine Beziehung mit Lover Tobias schwächelt, er hat das Studium geschmissen, und obendrauf gibt es Knatsch mit seiner besten Freundin Karla (klasse: Melodie Simina). Die hat gerade ganz andere Sorgen. Sie fürchtet, in ihrer Firma als Aushängeschild für Diversität ausgenutzt zu werden. Kurz: Lalo muss sich und sein Umfeld kräftig neu justieren.
Es geht um Universelles wie Verlust, Einsamkeit und Neuanfänge, Liebe, Betrug und Freundschaft, um Identitätsfindung von BiPoC und queeren Menschen. Schöpfer Gibba beschrieb das Konzept von „Schwarze Früchte“ im Zuge der Premiere als „Cringe Comedy“, in der er versuche, „Lustiges zu zeigen, allerdings gleichzeitig auch Szenen, die so unangenehm sind, sodass man lieber die Augen zu machen will“. Das ist ihm gelungen. BR2 befand: „Modern, sensibel und spannend erzählt, ist ‚Schwarze Früchte’ vielleicht die beste Serie derzeit.“
Schwarze Früchte, 1. Staffel, 8 Folgen, seit 31. Oktober, ARD Mediathek.
ZEIT Verbrechen
„In Seriendeutschland sind noch Wunder möglich“, schrieb Spiegel Online über „ZEIT Verbrechen“. Es habe „selten zuvor im deutschen Fernsehen so viel Bruch eingeübter Film- und Fernsehbräuche“ gegeben, so der Branchendienst DWDL über die ambitionierte Anthologie. Epd Film nannte die vier 60-Minütiger „Musterbeispiele für ein Erzählen, das wagt, zu irritieren, herauszufordern“. Neugierig geworden? Gut so.
„ZEIT Verbrechen“ basiert auf dem gleichnamigen True-Crime-Podcast von Sabine Rückert, Reporterin und stellvertretende Chefredakteurin der Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Was die Adaption des seit 2018 laufenden Erfolgsformats so besonders macht? Sie besteht aus vier eigenständigen und damit völlig unterschiedlich inszenierten Krimi-Dramen. Die Anthologie-Struktur erlaubte den Filmschaffenden ungewöhnliche, persönliche, teils experimentelle Herangehensweisen. Mag riskant klingen, doch der Mut hat sich ausgezahlt. „Zeit Verbrechen“ wurde bereits nach der Premiere in der Panorama-Sektion der diesjährigen Berlinale vom Fachpublikum gefeiert. Kurz darauf gab es den Deutschen FernsehKrimi-Preis als beste Krimiserie, weitere Auszeichnungen folgten. Die Storys: „Dezember“ von Mariko Minoguchi („Tides“) erzählt das tragische Ende einer Partynacht mit einem herausragenden Samuel Benito in der Hauptrolle. „Der Panther“ von Jan Bonny („King of Stonks“) ist eine harte, brutale Charakterstudie über einen spielsüchtigen V-Mann, mit Lars Eidinger („Sterben“) in Bestform. Nicht lineare Erzählweise macht das Gerichtsdrama „Deine Brüder“ von Helene Hegemann („Axolotl Overkill“) zu einer unkonventionellen Seherfahrung. Der Fall: Fünf Kindheitsfreunde sollen ihren Kumpel ermordet haben. Faraz Shariats teils in Ghana spielendes „Love by Proxy“, u. a. mit Jan Henrik Stahl und Sandra Hüller, ist ein smarter, wendungsreicher Thriller.
Warum das vom Berliner Filmstudio X Filme Creative Pool („Babylon Berlin“) produzierte und ursprünglich für Paramount+ entwickelte Projekt trotz Preisregen erst jetzt und bei RTL+ startet? Die „Warteschleife“ ist einem Strategiewechsel im Hause Paramount Global geschuldet. Der Streamer wollte weg von international produzierten Originals und sich stattdessen wieder auf US-Franchises konzentrieren. Ebenfalls betroffen: die Rache-Thriller-Serie „Turmschatten“ (jetzt bei Sky Atlantic) mit Heiner Lauterbach. Wie gut, dass „Zeit Verbrechen“ jetzt doch noch anläuft und es dadurch im „True Crime“-Genre ausnahmsweise ein Happy End gibt.
ZEIT Verbrechen, 1. Staffel, 4 Folgen, seit 10. November, RTL+.
Ich bin Dagobert
True-Crime-Serien boomen, nicht jede ist ein großer Wurf. Umso bemerkenswerter, dass der RTL+-Sechsteiler „Ich bin Dagobert“, sich wohltuend aus dem generischen Biopic-Allerlei abhebt. Die Story von Arno Funke (großartig: Friedrich Mücke aus „Der Ballon“), der vom psychisch labilen Autolackierer zum Erpresser wird, ist nämlich nicht nur wohltuend klischeefrei, sondern obendrein ausgesprochen amüsant erzählt.
Die spannende Räuberpistole mit stimmigen, sorgsam dosierten 90s-Vibes blättert einen der spektakulärsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte auf. Anfang der 1990er-Jahre hält Arno Funke unter dem Pseudonym „Dagobert“ als Kaufhauserpresser und Bombenleger die just wiedervereinigte Bundesrepublik in Atem, führt Polizei, Justiz und Öffentlichkeit gewitzt an der Nase herum. Das Katz-und-Maus-Spiel beginnt er 1992 mit einem Erpresserschreiben an den Karstadt-Konzern, kurz darauf explodiert in der Porzellanabteilung einer Hamburger Filiale eine Rohrbombe. Dabei hatte das Unternehmen bereits Zahlungsbereitschaft signalisiert – im Anzeigenteil des Hamburger Abendblatts mit den Worten „Onkel Dagobert grüßt seine Neffen“. Rund zwei Jahre narrt der Erpresser die Behörden, bevor er 1994 in einer Berliner Telefonzelle gefasst wird.
Der echte Arno Funke stand der Produktion übrigens nicht nur beratend zur Seite. In Folge fünf hat er im Ermittlerteam einen Cameo-Auftritt und trifft dabei auf Hauptdarsteller Friedrich Mücke – also quasi auf sich selbst.
Ich bin Dagobert, 1. Staffel, 6 Folgen, seit 2. Oktober, RTL+.
Die Kaiserin – Staffel 2
Sie ist wieder da. Die Emmy-geadelte Netflix-Serie „Die Kaiserin“ von Showrunnerin und Headautorin Katharina Eyssen (Drehbuch-„Blaue Panther“ 2023 in der Kategorie Fiktion) geht in die zweite Runde. In der neuen Staffel über das Leben der österreichischen Monarchin Sisi rumort es im Reich heftig, in Schloss Schönbrunn werden zuhauf Intrigen gesponnen, und Erzherzogin Sophie (die neue Frankfurt-„Tatort“-Kommissarin Melika Foroutan) macht erneut gnadenlos Druck. Aktueller Anlass: Auch das zweite Kind der unkonventionellen Elisabeth (Devrim Lingnau) und des Kaisers Franz (Philip Froissant) ist „nur“ ein Mädchen und kein Thronerbe, die politische Stabilität steht auf dem Spiel. Übersteht die Ehe der beiden diesen Stresstest?
Die Sets sind gewohnt detailverliebt und aufwändig, viele Requisiten entlieh Production-Designerin Myrna Wolff aus Museen. Die opulenten Roben versah Kostümbildnerin Gabriela Reumer erneut mit ebenso ungewöhnlichen wie fantasievollen Details. Aufmerksame Kostümfilm-Fans entdecken kämpfende Löwen, Spinnennetz-Designs und Spitze in Tattoo-Optik. Für frisches Blut (und neuen Zoff) sorgen Josephine Thiesen als Prinzessin Marie Charlotte von Belgien und Christophe Favre als Napoleon III.
Die Erwartungen sind hoch. Philip Froissant, für seinen sensiblen Kaiser Franz Joseph von der Kritik gefeiert, verspricht „große emotionale Tiefe“, da „es sehr um ihr Seelenleben und um existenzielle Fragen geht“. „Sisi“ Devrim Lingnau beschreibt den Zwiespalt ihrer Figur: „Sie will eine gute Kaiserin sein, das Reich repräsentieren. Auf der anderen Seite ist und bleibt sie eine unangepasste Frau, die sich für Poesie und Kunst interessiert und naturverbunden ist. „Diese beiden Pole zu vereinen, ist ihre große Lebensaufgabe.“
Die Kaiserin, 2. Staffel, 6 Folgen, ab 22. November, Netflix.
German Cocaine Cowboy – Der Deutsche im Cali-Kartell
Und noch einmal True Crime, diesmal aus dem Erfolgsteam der Beetz Brothers Film Production, die Andreas Pichlers diesjährigen „Blauer Panther“-Gewinner (Kategorie Information / Journalismus) „Gefährlich nah – Wenn Bären töten“ realisierten und selbst 2022 für die Produktion von „Juan Carlos – Liebe, Geld, Verrat“ mit dem Award ausgezeichnet wurden.
Die Doku-Serie „German Cocaine Cowboy – Der Deutsche im Cali-Kartell“ von Peter Dörfler („Achterbahn“) zeigt die irrwitzige Verbrecherkarriere der Rotlicht-Größe Hans-Joachim „Joe“ Marx. Der Hamburger, in den 1980er-Jahren Mitglied der sogenannten Chikago-Bande, steigt in den 1990ern nach der Verhaftung von Drogenbaron Pablo Escobar bis an die Spitze des kolumbianischen Cali-Kartells auf. Von Südamerika aus schmuggelt er im großen Stil Kokain nach Europa, ist zuständig für die Verteilung der Lieferungen. Sein Spitzname: der verrückte Deutsche.
Der Prime-Video-Vierteiler stellt die Lebensgeschichte des Hamburgers, der insgesamt fast 30 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbrachte, in aufwendig inszenierten, atmosphärischen Re-Enactments nach, dazu gibt es Interviews mit Marx und diversen Zeitzeugen. Es geht um Dreistigkeit, Zufälle, Skrupellosigkeit, Luxusleben, Knast-Interna — und tatsächlich auch um Liebe. Das ist ebenso faszinierend wie spannend, hat allerdings trotzdem einen Haken: Der Protagonist ist ein ausgesprochener Unsympath.
„German Cocaine Cowboy“ ist die erste Serie in einem True-Crime-Tripple, das Beetz Brothers für Prime Video produziert hat. Ab dem 17. November zeigt der Streamer „Milliarden Mike“. Darin geht es um Peter „Mike“ Wappler, bekannt geworden als Deutschlands schillerndsten Hochstapler. „Kill My Doppelgänger“ über den mysteriösen Tod der Beauty-Bloggerin Shahraban ist für 2025 geplant.
German Cocaine Cowboy – Der Deutsche im Cali-Kartell, 1 Staffel, 4 Folgen, seit 10. November, Prime Video.
Informant – Angst über der Stadt
Planen Extremisten einen Anschlag auf die Hamburger Elbphilharmonie? LKA-Mann Gabriel Bach (Jürgen Vogel) und BKA-Beamtin Holly Valentin (Elisa Schlott) sollen in Islamistenkreisen ermitteln. Das just zusammengestellte Duo rekrutiert zu diesem Zweck den Afghanen Raza Shaheen (großartig: Ivar Wafaei) als Informanten und ist dabei wenig zimperlich. Gnadenlos setzen sie den bislang unbescholtenen Aushilfslehrer mit der Drohung, seine illegal in Deutschland lebende Freundin zu verhaften, unter Druck. Stresslevel und Terrorangst steigen von Stunde zu Stunde, das Verwirrspiel um (rassistische) Vorurteile, Loyalitäten und behördliche Zuständigkeiten droht zu eskalieren. Über allem hängt die Frage: Wie weit darf man im Namen der nationalen Sicherheit gehen?
Jürgen Vogel, zurzeit an der Seite von Aybi Era in „Jenseits der Spree“ zu sehen, gibt den Oldschool-Kriminaler gewohnt souverän. Sein Gabriel Bach hat nicht nur eine verdammt kurze Zündschnur. Zur mangelnden Impulskontrolle kommt eine nicht ganz astreine Vergangenheit als verdeckter Ermittler im Neo-Nazi- und Rocker-Milieu, die ihn zum Leidwesen seiner Frau Emilia (Claudia Michelsen) noch immer nicht loslässt.
Dass „Informant“ gängige Krimi-Klischees gekonnt umschifft, verdankt der Thriller Matthias Glasner. Der Filmemacher, für sein Drama „Sterben“ 2024 mit dem Deutschen Filmpreis und dem Silbernen Berlinale-Bären ausgezeichnet, schrieb nicht nur die Drehbücher, er inszenierte den Sechsteiler überdies.
Glasner und sein Hauptdarsteller sind übrigens Geschäftspartner. Seit rund 30 Jahren entwickeln die beiden in der gemeinsamen Firma Schwarzweiss Filme und Serien. Ihre erste gemeinsame Produktion war „Sexy Sadie“ (1996).
Informant – Angst über der Stadt, 1 Staffel, 6 Folgen, seit 10. Oktober, ARD Mediathek und arte.tv.
My Song, Our History – Deutschland, deine Lieder
„Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, es geht voran.“ Klingt beklemmend aktuell? Die Songzeile stammt aus dem Jahr 1980. Mit „Ein Jahr (Es geht voran)“ traf die Band Fehlfarben seinerzeit den Nerv einer ganzen Generation. Damals wie heute bestimmte die Angst vor ökologische Katastrophen, wirtschaftlicher Rezession, irrationaler Politik, Terrorismus und dem Eskalieren des Ost-West-Konfliktes das Leben vieler junger Menschen. Die Folge: Endzeitstimmung, „No Future“ war mehr als eine Parole der Punkszene.
Wie klingen einschneidende Momente deutscher Geschichte? Welchen Soundtrack haben Brüche und Umbrüche? Dieser Frage spürt die Doku-Reihe „My Song – Our History“ nach. Musikschaffende wie Jennifer Weist („Mädchen, Mädchen“) sprechen über die Entstehungsgeschichte ihrer Stücke, ordnen sie Weltgeschehen, Politik und Popkultur zu. Ein ebenso spannender wie sehr persönlicher Blick auf Zeitgeist und Gesellschaft.
„Ein Jahr (Es geht voran)“ ist nicht der einzige Ohrwurm, der weh tut. Eko Fresh -Rapper, Schauspieler und Blauer Panther Laudator 2024 – reflektiert in „Es brennt“ über das Trauma, das die NSU-Nagelbombe in der Kölner Keupstraße bei der migrantische Community hinterlassen hat. 22 Menschen waren 2004 verletzt, zahlreiche Geschäfte verwüstet worden. Doch trotz eindeutiger Hinweise wurde ein fremdenfeindlicher Anschlag von deutschen Behörden lange ausgeschlossen. „So was wirft dich so sehr zurück. Du hast ja dann wirklich so’n Grundvertrauen ins Gesellschaftsgefüge verloren“, sagt der Rapper, der selbst aus Köln stammt.
Vor allem die selten gehörte Perspektive der Kunstschaffenden macht die vierteilige Dokumentation zur aufschlussreichen Geschichtsstunde, und das nicht nur für Musik-Fans.
My Song, Our History – Deutschland, deine Lieder, 1. Staffel, 4 Folgen, ab 23.November, ARD-Mediathek.