Interview: Jeanette Hain
„Ich glaube, wir finden mit allen Menschen etwas Verbindendes, wenn wir wollen.“
Die Schauspielerin Jeanette Hain ist für ihre Rolle in der Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ als „Beste Schauspielerin“ für den Blauen Panther 2023 nominiert.
In der Serie „Luden – Könige der Reeperbahn“ regieren zwar die Männer die Hamburger Unterwelt, doch ist es die Figur der Jutta, die aus Klaus Barkowsky den Zuhälter- und Kartellchef den „schönen Klaus“ macht. Wie sehr sie unter ihren eigenen Abhängigkeiten leidet und wie verzweifelt ihr Versuch ist, sich in diesen Abhängigkeiten Spielräume zu verschaffen, ist dem einfühlsamen Spiel von Jeanette Hain zu verdanken. Sie schafft es, mit ihrer großen Empathie den Zuschauer:innen diese widersprüchliche alternde Prostituierte Jutta nah zu bringen.
Für diese Rolle wurde sie von der Jury des Blauen Panthers als „Beste Schauspielerin“ nominiert. „Man kann ihr beim fortschreitenden Verfall zusehen, in körperlicher wie in psychischer Hinsicht. Jeanette Hain bringt es mit ihrem Spiel dennoch fertig, dass an Jutta zuallererst deren gar nicht so geringe Rest-Empathie auffällt – eine schwer fassbare menschliche Wärme inmitten von Kälte und Elend des Straßenstrichs“ – heißt es in der Jurybegründung.
Mehr als 100 Rollen hat sie in ihrem Leben bereits gespielt und ist dabei offenbar tief in die menschliche Psyche eingestiegen. Wer sich so intensiv in die Figuren hineinfühlt wie Hain, muss ein großes Verständnis für die Nöte, Freuden und Gedanken anderer menschlicher Wesen aufbringen. Das ist sichtbar auf der Leinwand und ist auch spürbar, wenn sie über Jutta und andere Rollen spricht.
Jutta ist eine sehr ambivalente Figur, einerseits mütterlich, andererseits ziemlich hart und wir schauen ihr im Verlauf der Serie beim Verfall zu – wie nah können oder wollen Sie so einer Frau kommen?
Jeanette Hain: Ich glaube, wir finden mit allen Menschen etwas Verbindendes, wenn wir wollen und es gibt viel mehr Gemeinsamkeiten, als wir manchmal denken. Natürlich lebt Jutta ein ganz anderes Leben als ich, aber was ich kenne, ist das Alleinleben. Ich habe immer mit meinen Kindern gelebt, bin aber eigentlich sehr eremitisch. Ähnlich wie die Figur Jutta kenne ich das Alleinsein, ohne einsam zu sein. In einem meiner Off-Texte sage ich, dass die Menschen auf dem Kietz das suchen, was alle suchen: Freundschaft, Geborgenheit, Familie und einen Ort, wo wir etwas zählen.
Gleichzeitig steckt so viel Brutalität in der Serie, indem sie die Figuren zwar in ihren Abhängigkeiten zeigt, aber auch in dem Versuch, sich darin Freiräume zu schaffen, sodass sie diese Abhängigkeiten weniger spüren. Sie werden gerne als Schauspielerin der leisen Töne bezeichnet. Die sind es, die uns als Zuschauer:innen diese verzweifelten Versuche umso schmerzhafter vor Augen führen. Warum haben die leisen Töne und Gesten manchmal die größere Wirkung?
Hain: Jutta kann auch mal laut werden, wenn sie durchdreht, sich wehrt, wenn sie verzweifelt und verletzt ist. Aber dann muss das einen sehr guten Grund haben. Das kenne ich auch an mir selber. Aber grundsätzlich finde ich, man sollte versuchen, das Leben nicht persönlich zu nehmen. Wenn dein Gegenüber dich verletzt oder angreift, dann meint er oder sie oft nicht dich, sondern das hat in der Regel etwas mit ihm oder ihr selbst zu tun. Ich versuche, Dinge, die passieren, nicht zu bewerten. Sondern zuzusehen oder wahrzunehmen, bevor ich mich selbst hineinziehen lasse. Auf diese Weise kann man zu großer Ruhe kommen und eine gewisse Furchtlosigkeit entwickeln. Eine unangenehme Situation birgt auch immer etwas Positives mit sich.
Sie haben mal erzählt, dass Sie für jede neue Rolle, die Sie spielen, einen Raum in sich selbst finden und für diese Figur öffnen. Können Sie erklären, wie das funktioniert?
Hain: Ich glaube, das ist ähnlich, wie wenn man sich verliebt. Dann glaubt man auch – oder vielleicht ist es auch so – dass dieser andere Mensch etwas in einem selbst wachküsst, das schon vorher da war. Dann gehen Seelenräume auf und man spürt diese Nähe. Und so ist es auch mit den Figuren. Irgendwann ist da diese Nähe und irgendwann fühlt es sich so an, als würden mich diese Figuren begleiten, hätten meinen Haustürschlüssel in der Hand, wenn ich die Türe aufsperre. Dann bekommen sie Wesenszüge, die ich auch in mir selbst finde.
Sie haben mehr als 100 Rollen gespielt, ist das bei allen Rollen so?
Hain: Ich hatte das Glück, sehr vielen Wesen in meiner Arbeit auf diese Weise begegnen zu dürfen. Aber natürlich ist das nicht immer so innig wie bei Jutta aus „Luden“.
Bleiben diese Seelenräume dann auch nach dem Dreh offen, wenn das Rollen sind, die Ihnen nah kommen?
Hain: Ja, die bleiben ganz weit offen, und das ist bei den meisten Rollen so, etwa ganz aktuell bei der Ilse von Hausner in „Davos 1917“, das voraussichtlich im Winter in der ARD läuft. Das war auch eine sehr intensive Erfahrung. Bei der Jutta in „Luden“ spielte auch Laura Lackmann eine große Rolle, die Regisseurin. Sie hat die Jutta und mich zusammengebracht. Das war wie der gläserne Schuh bei Aschenputtel, als sie mich für die Rolle der Jutta gefunden hat.
Sie sind zu Beginn Ihrer Karriere über das Regiestudium zur Schauspielerei gekommen – wann und wie haben Sie gewusst, dass das das Richtige ist?
Hain: Da war ich noch richtig klein, in der Grundschule, als ich das erste Mal den Herzschlag meines Berufs gespürt habe. Ich spielte die Feldmaus, eine ganz kleine Rolle, habe aber kurz vorher eine Platzwunde bekommen. Ich sollte zum Nähen ins Krankenhaus fahren. Aber mein Vater, ein Unfallchirurg, war da und ihn habe ich überzeugt, mir die Wunde mit einem Pflaster zuzukleben, weil ich unbedingt spielen musste. Man sollte immer diese Klammerpflaster in der Handtasche haben!
Was mir an der Schauspielerei so gut gefällt, ist wenn ich ganz im Jetzt sein kann. Wenn sich beim Drehen alle Kräfte mobilisieren und in einer Situation bündeln, diese Hingabe an den Moment, die ist was Besonderes, Wahrhaftiges. Das versuche ich auch außerhalb des Sets zu leben.